Erste Stimmen gegen Digitalzwang und Onlinekontrolle

Nachdem Martin Schulz Ende November 2015 unter dem Titel „Freiheit. Gleichheit. Datenschutz“ eine „Charta der digitalen Grundrechte“ in der ZEIT gefordert hatte, legte Heiko Maas in der Dezemberausgabe nach und formulierte 13 Forderungen nach digitalen Grundrechten. Sie initiieren damit die notwendige Diskussion über das Primat des Rechts vor der Herrschaft des technisch Machbaren. Die Digitalisierung sei ein „Totalphänomen“, das buchstäblich alle Lebensbereich erfasse, so Maas. Nur sei statt dem Ziel der freien Information und der hierarchie- wie kommerzfreien Kommunikation die Herrschaft der Kennzahlen und die Ökonomisierung aller Lebensbereiche geworden.

„Weil die Digitalisierung mit dem Neoliberalismus einherging, wurde viel zu lange auf eine demokratische Regulierung verzichtet. Eine Technikgestaltung durch Recht fand kaum statt.“ (Maas 2015)

Bislang gilt: Wer nur schnell und radikal genug programmierte, konnte nahezu rechtsfrei agieren. Sobald die nationalen Gesetzgeber Rechtsnormen einführen, ruderten die Digitalmonopolisten genau so weit zurück, wie sie es mussten, um sofort die nächsten Schlupflöcher auszuloten. Es ist das Hase-Igel-Spiel auf digitalisch, bei dem der Rechtsstaat auch offensichtliche Rechtsverletzungen immer erst im Nachgang korrigieren kann. Wenn Maas für Deutschland und Schulz für Europa hier proaktiv würden, kann man das nur unterstützen, eine breite Diskussion und einen verbindlichen Konsens wünschen.
Zwar kann man eine andere Reihenfolge oder Gewichtung der Artikel präferieren. Statt dem „Recht auf Internetzugang für jeden“ am Anfang wäre aufgrund der bisherigen Erfahrungen mit dem Netz eine Präambel sinnvoll:

Das Internet ist kein rechtsfreier Raum. Im Internet gelten die allgemeinen Menschenrechte ebenso wie Persönlichkeitsrechte. Die Würde des Menschen ist auch im Netz unantastbar. Die Meinungsfreiheit endet im Netz wie in der realen Welt, wenn andere Personen diffamiert werden oder zu Gewalt aufgerufen wird.

Beide irren in der vermeintlichen Alternativlosigkeit des Netzes in seiner heutigen Form. Die beinahe täglichen Berichte über das Hacking (vom Bundestag über Geheimdienstseiten bis zu Kinderspielzeug) deuten eher darauf hin, dass das Netz technisch nur eine Zukunft hat, wenn es in lokale und regionale Netze aufgespalten wird, in denen verschlüsselt und geschützt kommuniziert werden kann. Das ist zwar das Schrecklichste, was sich Alphabet/Google CEO Eric Schmidt vorstellen kann, die „Balkanisierung des Internet“, wie er die Datenlokalisation nennt, wenn europäische Staaten eine eigene Netz-Infrastruktur aufbauen, um ihre Daten zu schützen. Schmidt liefert zugleich die Begründung, warum das für Europäer der einzig sinnvolle Weg ist: weil Datenlokalisation bedeute, dass diese „Daten nicht mehr einer amerikanischen Firma gehören“, Google nämlich. (Lauer, 20140, S. 13) Das aber sollte für Europäer und Demokraten geradezu eine Aufforderung sein, zu lokalisieren.

Das Recht und die Freiheit, das Netz nicht nutzen zu müssen

Einig sind sich Schulz und Maas in der Forderung, dass niemand gezwungen werden darf, digitale Dienste nutzen zu müssen oder online zu sein. Das gilt für Gesundheitsvorsorge und -dienste ebenso wie für alltägliche Dinge wie Kontoauszüge oder das Lernen in Bildungseinrichtungen.

„In der digitalen Welt muss es ebenso wie in der analogen möglich bleiben, dass nicht jeder alles mitmacht, auch wenn die große Mehrheit das anders handhabt. Selbst wenn viele mit großer Begeisterung all ihre Daten offenlegen, wenn sie sich am ganzen Körper verkabeln und freiwillig ihre Biodaten in einer Cloud speichern – selbst dann darf für niemanden, der sich dem entziehen will, ein Schaden entstehen. Minderheitenschutz gilt analog wie digital!“ (Schulz 2015)

Bei Maas schützt der letzte Artikel 13  vor dem Zwang zur Digitalisierung:

Artikel 13: Jeder Mensch hat das Recht auf eine analoge Welt. Niemand darf ungerechtfertigt benachteiligt werden, weil er digitale Dienstleistungen nicht nutzt.

Freiheit hat stets auch eine negative Dimension und gibt uns das Recht, etwas nicht zu tun. Das muss auch im Zeitalter der Digitalisierung gelten. Eine Fahrkarte kaufen, einen Reisepass beantragen, eine Kontoüberweisung vornehmen – so etwas muss auch möglich bleiben, ohne ein teures Smartphone zu kaufen, und es darf auch niemand benachteiligt werden, weil er keinen Facebook-Account besitzt.“ (Maas 2015)

Diese beiden Zitate übertragen auf den Kontext von Schule und Unterricht bedeuten: Niemand darf zur Nutzung und/oder zum Kauf von Smartphone oder Tablet gezwungen werden, um am Unterricht teilnehmen zu können. Lernen muss ohne Zwang zu Digitaltechnik möglich sein. Auch wenn die Mehrheit mit Smartphones, Tablets  und permanenter Netzanbindung lernen zu können glaubt, müssen immer Alternativen angeboten werden. Für Minderjährige obliegt es den Erziehungsberechtigten zu entscheiden, ab wann und für welchen Zweck Digital Devices eingesetzt werden. Kein Kind und kein Jugendlicher darf benachteiligt werden, wenn er oder sie digitale Geräte nicht nutzt. Wer lieber analog arbeitet, soll dies tun können. Lernen muss möglich sein ohne Benachteiligung aufgrund fehlender Hardware oder nicht existenten Accounts und (euphemistisch sozial) genannten Webdiensten.

„Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden“ schrieb Rosa Luxemburg und man muss heute als Freiheitsrecht einfordern, anders handeln zu können als die Mehrheit, ohne benachteiligt zu werden. Auch dafür braucht es eine Charta für die Rechte – und Freiheiten – der Bürgerinnen und Bürger im Umgang mit dem Netz.

Literatur und Quellen

Der Beitrag als PDF: Lankau: Digitalcharta (zu Schulz und Maas)