Seifenblasen mit Kollateralschäden

Einer Beilage der Süddeutschen Zeitung (Lernen, 10. November 2011) war zu entnehmen, dass es in Deutschland derzeit knapp 16.000 Studiengänge gäbe (15.892, um genau zu sein; über 9.000 Bachelor- , mehr als 6.500 Masterstudiengänge, Stand: Ende Oktober 2011). Oder mehr. Für den Master of Business Administration (MBA) hat ein Hochschulberater ausgerechnet, dass es nicht nur die laut Bildungsserver und Hochschulkompass 89 offiziellen MBAs gebe, sondern mehr als 280. Alleine bei den Betriebswirten würden über 1000 Studiengänge gelistet. Jährlich wachse die Zahl der Studiengänge um etwa 1000. Aus Sicht des Marketing sei das logisch und nenne sich „Produktdifferenzierung“. Aus Sicht des Marketing ist die verbale Diversifizierung des Angebots ein Zugewinn. Die „Ausdifferenzierung“ spiegele weniger die Profilierungssucht der Hochschulen, sondern folge vielmehr „dem Geist von Bologna und dem erklärten Willen der Politik“. So jedenfalls der Staatssekretär Josef Lange (Niedersachsen).

„Arbeitgeber formulieren über ihre Verbände Anforderungen, was künftige Arbeitnehmer können sollen. (…) Die Öffentlichkeit erwartet, dass Fachhochschulen und Universitäten ihre Verantwortung ernst nehmen und die jungen Leute so ausbilden, dass sie sofort einen Arbeitsplatz finden können. Deshalb entwickeln sie fortwährend neue, passgenaue Studiengänge.“ (Lange, zit. n. Demmer, SZ vom 10. November 2011, S. 41). Die Angebote würden zwar immer kleinteiliger, manche bildeten nur für einen Arbeitgeber der Region aus, bemerkt sogar der Staatssekretär kritisch. Aber die „Ausrichtung von Studiengängen an Marktnischen“ und die Vielzahl der Studiengänge sei konsequent. Die Umorganisation von Studiengängen zu Ausbildungsberufen nach Maßgabe wirtschaftlicher Interessen sei schließlich Ziel des (euphemistisch „Bologna-Prozess“ genannten) Umbaus der Hochschulen und Universitäten zu Berufsbildungszentren.

Den letzten Satz sagte der Staatssekretär nicht, aber auch so ist die Offenheit dieser Ausführungen erfrischend. Selten findet man die Intention der Bologna-Reform so wenig verklausuliert: Studiengänge und damit die akademische Bildung habe sich „passgenau“ nach den Anforderungsprofilen und Stellenbeschreibungen der Wirtschaftsverbände und Arbeitgeber zu richten.

Kollateralschäden

Das kann man so formulieren, das kann man so fordern: Studium als Zurichtung für den Arbeitsmarkt. Schauen wir auf die Konsequenzen. Studieninteressierte sind überfordert und desorientiert ob der Vielzahl sehr ähnlicher Studiengänge. Man wird daher neben den Hochschulberatern und Marketingvertretern, die die vielen Studiengänge „ausdifferenzieren“ und vermarkten (müssen, weil die Unterschiede schwer zu erkennen sind), auch Studienberater/innen für potentielle Studierende einstellen und bezahlen (müssen), die das ausufernde Dickicht der Studienangebote für Studieninteressierte sichten. Man nennt so etwas Arbeitsbeschaffungsmaßnahme (ABM). Man erzeugt mutwillig ein Durcheinander und bietet das Ordnen als Dienstleistung an. Das ist nach dieser Logik in sich schlüssig. Das Umlenken von Geldern aus Lehre und Forschung in die Administration und/oder externe Dienstleister hat schließlich System. Man denke an die flächendeckend propagierten Qualitätsmanagement-Maßnahmen für Bildungseinrichtungen. Man überschlage die dafür benötigten Ressourcen und Kosten. Da tut sich ein weites Feld an Verdienstmöglichkeiten auf, zumal eines mit „nachhaltiger“ Wirkung durch regelmäßige wiederkehrende Audits. Qualitätsmanagement (QM) ist, wie schon die Zertifizierung nach ISO 9000, die Lizenz zum Gelddrucken. QM bedeutet zugleich einen Paradigmenwechsel: Von der selbstverwalteten Hochschule zu externen Steuerinstrumenten, ein Wechsel vom Primat der gleichberechtigten Partner aus Kollegium und Rektorat hin zu Führungsstrukturen und Hierarchien. Ohne Hierarchien und Weisungsbefugnis funktioniert QM nicht. QM ist das Instrument zur Einführung von Hierarchien. Rektoren heißen daher auch nicht mehr Rektor, sondern Vorstand. Während man in der Wirtschaft von den Ober-Kontrolleuren a la Lopez längst wieder abgekommen ist und den Mitarbeitern gezielt Verantwortung überträgt, (weil es wirtschaftlicher und motivierender ist als Kontrolle), sucht man für die scheinbar unterbeschäftigten QM-Manager ein neues Betätigungsfeld – an Hochschulen und Universitäten, offensichtlich. Dabei weiß man (oder könnte wissen), dass die Kernaufgaben von Hochschulen und Universitäten – Lehre und Forschung – sich mit Kennzahlen weder sinnvoll abbilden lassen noch mit dem Dreiklang aus „Messen, Steuern, Regeln“ harmonieren. Es sei denn, als Beispiel, man nähme die Anzahl von Publikationen als Maßstab für die Beurteilung eines Kollegen und nicht deren Inhalt. Peter Fuchs hat die Unsinnigkeit der Kennzahlenfixierung an Hochschulen bereits 2001 verspottet:

„Gebrütet wird über Leitbildern (als wäre dies wirklich eine auch nur annäherungsweise anspruchsvolle intellektuelle Aufgabe); man erwartet zaghaft das Donnergrollen der Rankings (als wären Verlautbarungen von Massenmedien die Dekaloge unserer Zeit); man evaluiert auf Teufel komm raus und sieht nicht, dass er wirklich aus dem Kasten springen könnte; um Drittmittel wird getanzt wie um das Goldene Kalb, und es ist zu erwarten, dass demnächst Leuchtschriften um die Gebäude der Hochschulen laufen, auf denen verzeichnet wird, wer wann wo und wodurch solche Mittel eingeworben hat. Immerhin wäre es Drittmittel in beliebiger Höhe wert, fände sich jemand, der ein Virenschutzprogramm für Hochschulen entwickelte. Wie die Computer dieser Welt sind auch Hochschulen virusanfällig “ (Fuchs, Trivialmaschinen, 2001)

Aber wer Bildung als Bildungsmarkt definiert, weiß seine Pfründe auf allen Ebenen zu sichern. Dazu passt dann auch die unsinnige Konsummetapher von „Bildung als Ware“, wie sie Jochen Krautz schon 2007 in seinem gleichnamigen Buch als von Grund auf falsch angeprangert hat. Oder die daraus abgeleitete Anbieter-Kunden-Metaphorik: Abiturienten und Studieninteressierte seien in der Vorkonsumphase und müssten (vom Marketing) entsprechend beworben werden. Das Studium selbst sei die „Konsumphase“, nach Abschluss wechseln die Absolventen in die Nachkonsumphase und müssten entsprechend als Alumni „bespielt“, um- und beworben werden. Marketingphrasen, mag man denken, aber nicht wenige Studierende verhalten sich so. Man hat Ihnen lange genug eingeredet, sie seien „Kunden“, entsprechend fordernd treten sie auf. Dass man weder Wissen noch gar Bildung kaufen, dass man Verstehen und Begreifen nicht „konsumieren“ kann, sei dahingestellt. Dass Lernen immer Eigenleistung ist – nie gehört. Dass die gedoppelte Definition von Studierenden sowohl als „Kunden“ wie auch als „Produkt“ absurd und inhuman ist (Bildungseinrichtungen „produzieren“ nichts, Menschen sind kein Produkt – wen interessiert das. Man muss diese Floskeln nur oft genug wiederholen, dann werden sie schon geglaubt.

So funktioniert Propaganda. Man gebe dem “Volk” möglichst einfache, prägnante Bilder und kurze, emotionale Slogans, repetiere und penetriere die immer gleiche „Botschaft“ auf allen Medienkanäle bis zum Exzess, bis das Publikum sie auswendig kann und daran: glaubt. Massen steuert man mit Trivialitäten, Bildern und emotionalen Metaphern. (Gustave LeBon: Psychologie der Massen, 1895; Edward Bernays: Propaganda, 1928, siehe Krautz, Bildungsreform, 2011)

Hochschulen und Wissenschaft brauchen eine solide Öffentlichkeitsarbeit und eine vertrauenswürdige, mediale Präsenz. Tue Gutes, in Lehre und Forschung, und rede darüber. Studieninteressierte brauchen konkrete und ehrliche Beschreibungen der Angebote, kein Seifenblasen-Marketing der „Ausdifferenzierung“.

Schwerwiegender ist, dass kein Fach und keine Disziplin sinnvoll auf hunderte oder gar tausend Studiengänge aufgeblasen werden kann, ohne in die Lächerlichkeit zu diffundieren. Diese rein quantitative Aufblähung von „Studiengängen“ zwecks „Produktdifferenzierung“ ist Augenwischerei und dient einzig der Logik des Verkaufens. Für dumm verkauft werden Studierende und die Hochschulen bzw. Universitäten gleich mit. Dass, wer einen dieser „ausdifferenzierten, passgenauen Studiengänge“ studiert, auch nur ein sehr schmalen Segment seines Fachs abdeckt, ggf. nur das, was ein regionaler Arbeitgeber ins Curriculum schreibt, wird daher berufsbegleitend noch ein paar nachlaufende Aufbau-, Erweiterungs- und Ergänzungsstudiengänge belegen müssen. Das entspricht der konsequenten Vermarktung von (Aus-)Bildung als passgenauer Zurichtung und der „nachhaltigen (Kunden-)Bindung von Alumni als dann zahlende Kunden für die ebenfalls propagierte lebenslange Weiterbildung.

Wenn ein junger Mensch hingegen grundständig Physik oder Mathematik, Germanistik oder Romanistik studieren will, findet er in den modularisierten Studiengängen kaum mehr ein Propädeutikum (Vorstudium), Grund- und Hauptstudium sind abgeschafft (es gibt nur noch Studienphasen) und ein Wechsel der Hochschule oder Universität, an sich eines der behaupteten Ziele der Reform, ist ob der vielen, „ausdifferenzierten“ Module und Studiengänge mit ihren ebenfalls ausdifferenzierten Credits kaum mehr möglich.

Berufsbildungszentren statt Universitäten?

Was hier vom Staatssekretär aber quasi nebenbei postuliert wird ist die Umwandlung der Hochschulen und Universitäten zu Ausbildungsstätten. Das kann man, wie gesagt wollen. „Wozu noch Universitäten?“ fragt denn auch der emeritierte Philosophieprofessor Reinhard Brandt (Marburg) in seinem aktuellen Essay. Als eine mögliche Variante beschreibt Brandt die konsequente Verschulung der Hochschulen und Universitäten, deren Privatisierung wie in Groß Großbritannien oder deren Medialisierung zur „Universität im Videoformat“ wie in den Vereinigten Staaten. Das gibt es alles in der Praxis, wenn auch (noch) nicht in Deutschland. Privatisierung und Medialisierung bzw. Digitalisierung sind dabei ebenso bekannte, immer wieder referierte Schlagworte beim Umbau öffentlicher und sozialer Einrichtungen wie die alles überschattende Ökonomisierung und Merkantilisierung. Dafür kann man, wie gesagt, plädieren. Nur sollte man die Konsequenzen richtig benennen: Aufgabe der akademischen, nämlich (zweck)freien Bildung, Verzicht auf eigenständiges, nicht funktionales Wissen, Verzicht auf eigenständige Erkenntnisfähigkeit, Reduktion des Menschen auf Humankapital und „Bildungs-“Einrichtung zu möglichst effizienten Abrichtungsstätten für den benötigten Ressourcen-Nachschub.

Reinhard Brandt formuliert als Aufgabe von Lehrenden selbstverständlich etwas anderes: „Werdet Partisanen der Erkenntnis“.

„Die Wissenssammler sitzen in getrennten Höhlen ihrer Ausbildung und lernen von den platonischen Kinowänden auswendig, was der Prof oder der billige Lohnassistent wohl fragen wird, und schon ist das berufsqualifizierende Zertifikat nach 6 Semestern unterschrieben. Die Erkenntnis ist dagegen jeweils eigene Tätigkeit und kann dadurch keine Illusion sein, weil sie die Blendmanöver thematisiert und die Wände des Abrufwissens mit ihrer Kritik durchstößt“ (Brandt, Universitäten, 2011, S. 197)

Brandt fordert eine Konsolidierung der Fächer (und damit die Reduktion der Seifenblasen-Studiengänge). Er fordert die Reduktion der Prüfungen auf eine Zwischen- und Abschlussprüfung (S. 197) und vor allem die Anleitung zu eigener Erkenntnisfähigkeit. Denn es geht im Studium nicht um die Anhäufung von „Wissen“, sondern um erkennen, folgern, schließen. Brandt fordert eine Besinnung auf den Sinn des Studiums. Daran kann man sich nur anschließen. Es wird Zeit, die Curricula und Studiengänge wieder nach der Fachlogik auszurichten statt an Markt und Marketing. Es wird Zeit, das Studium von der aufgezwungenen Lernbulimie der eng getakteten Prüfungsleistungen zu befreien und statt der Repetition kurzfristig antrainierter Inhalte wieder Zeit zum Verstehen und Begreifen einzuräumen. Denn das lateinische „schola“ bedeutet freie Zeit und Muße – zum Lernen und um sich zu begeistern für ein Fachs oder eine Disziplin.

Quellen:

Bernays, Edward [Propaganda, 1928]: Propaganda. Die Kunst der Public Relation, (1928), Kempten: Orange Press, 2007

Brandt, Reinhard: Wozu noch Universitäten?, Ein Essay. Hamburg: Meiner, 2901

Demmer, Christine [Inflation, 2011]: Inflation der Fächer, in: Süddeutsche Zeitung (SZ) vom 10. November 2011, S. 41

Deutscher Bildungsserver

Hochschulkompass (Website mit Studienangeboten der Hochschulrektorenkonferenz)

Fuchs, Peter [Trivialmaschinen, 2001]: Hochschulen in Trivialmaschinen, in: taz vom 11. Dezember 2001,, Zugriff: 17.11.2011

Krautz, Jochen [Bildungsreform, 2011]: Bildungsreform und Propaganda: Strategien der Durchsetzung eines ökonomistischen Bildungsverständnisses In: Deutscher Lehrerverband/Konrad Adenauer Stiftung (Hrsg.): Wozu Bildungsökonomie? Berlin 2011